Der Lutheranerbaum bei Kirchschlag

Wenn man von Kirchschlag aus die Günser Straße hinab wandert und gerade über die letzten Häuser linkerhand hinausgekommen ist, kann man links am Waldesrand ein Bildstöckel entdecken, das heute in einer etwas verwahrlosten Umgebung steht.
Vor einigen Jahrzehnten war hier noch ein idyllisches Plätzchen. Neben dem Bildstöckel luden ein Tisch und zwei Bänke zu längerem Verweilen unter schattigen Bäumen ein. Es war eine beschauliche, erholsame Stätte, deren Ruhe nur ganz selten gestört wurde, wenn unten auf der Günser Straße ab und zu einmal ein Pferdewagen oder ein Ochsengespann vorbeifuhr. Der verbaute Teil Kirchschlags begann damals erst viel weiter oben bei den Häusern Kindl und Haubenwallner, sodass man beim Bildstöckel wirklich noch mitten in der Natur saß.
Das Plätzchen heißt von alters her „beim Lutheranerbaum“. Die Bezeichnung rührt von einem großen Lindenbaum her, der noch bis vor etwa 100 Jahren dort gestanden ist. Es war ein sehr alter, mächtiger Baum, dessen Stamm innen bereits ganz ausgehöhlt war.
Als übermütige Halterbuben einmal innerhalb des Baumes ein Feuer anzündeten, griffen die Flammen bald auf den ganzen Baum über und setzten seiner Existenz ein Ende. Die Bezeichnung „beim Lutheranerbaum“ blieb aber weiterhin der Örtlichkeit treu.
Was hatte es aber mit dem Lutheranerbaum für eine Bewandtnis? Handelte es sich dabei vielleicht um einen „heiligen“ Baum? Der Glaube, der Gottheit und dem göttlichen Segen an bestimmten Orten näher zu sein als an den Stätten des Alltages, war in der Geschichte der Menschheit stets vorhanden; er war in Zeiten, da die Menschen noch weitaus naturverbundener lebten, sogar weitaus stärker verbreitet als heutzutage.
So wissen wir, dass vor der Christianisierung Europas bei vielen Völkern so mancher Stein, so manche Quelle und so mancher Baum als „heilig“ angesehen und dass dort Gottesdienste abgehalten wurden. Die Kirche schritt dann allerdings gegen solche Kulte energisch ein. So ist z. B. allgemein bekannt, dass der hl. Bonifatius anlässlich der Bekehrung der heidnischen Germanen zum Christentum in Hessen eine dem Germanengott Donar geweihte Eiche gefällt und aus dem Holz des Baumes eine Kapelle erbaut hat.
Nun wurde das südöstliche Niederösterreich zwar von Deutschen gerodet, die bereits christianisiert waren. Es haben sich aber, wie wir wissen, in der bereits christianisierten Bevölkerung jahrhundertelang heidnische Vorstellungen erhalten, gegen die die Kirche immer wieder ankämpfen musste. Um hier wirksam durchzugreifen, wurde so manche vom Volke als „heilig“ angesehene Stätte als „teuflisch“ erklärt; da wurde beispielsweise ein „heiliger“ Felsblock als „Teufelskanzel“, ein „heiliger“ Baum als „Teufelsbaum“ bezeichnet. Damit suchte man so manches Naturheiligtum, an dem der Aberglaube des Volkes zähe festhielt, in Verruf zu bringen.
Als dann später Luthers Reformation die Gemüter der Deutschen heftig erhitzte, und zwischen Katholiken und Lutheranern ein erbitterter Glaubenskampf entbrannte, ließen sich beide Seiten nicht selten dazu hinreißen, die Lehre der anderen als „Teufelslehre“ zu kennzeichnen. So wurde in katholischen Ländern bald „lutherisch“ oder „lutheranisch“ mit teuflisch identisch, was zur Folge hatte, dass nunmehr im Volksmund aus einer „Teufelskanzel“ bald eine „lutherische Kanzel“, aus einem „Teufelsbaum“ ein „Lutheranerbaum“ wurde.
So mag auch die alte Linde bei Kirchschlag zu ihrem Namen gekommen sein. Denn Kirchschlag ist auch in der Reformationszeit stets katholisch geblieben, weil die damaligen Herrschaftsbesitzer, die auf Schloss Krumbach residierenden Puchheimer – zum Unterschied von anderen Linien dieses Geschlechtes – zumindest formal stets am katholischen Glauben festhielten.
Das Bekenntnis der Herrschaft entschied aber damals zugleich über das Bekenntnis ihrer Untertanen. Es ist daher kaum anzunehmen, dass in Kirchschlag eine größere Anzahl Protestanten gelebt hätte, die unter dem Lutheranerbaum ihre Gottesdienste abgehalten hätten, zumal es sich dabei um etwas „romantische“ Vorstellungen handelt, die erst im vorigen Jahrhundert aufgekommen sind.
Mögen nun aber an der genannten Stätte altheidnische Geister oder ketzerischer Glaube ihr Unwesen getrieben haben, jedenfalls errichtete die Kirchschlager Bürgerschaft dort am Ende des Glaubenskampfes im Jahre 1659 ein Bildstöckel zu Ehren der Heiligen Dreifaltigkeit, die bekanntlich als stärkste Abwehrkraft gegen allen dämonischen Einfluss angesehen wird. Heute kann man dort noch am dem Sockel des Bildstöckels die Inschrift lesen: „Zu Lob und Ehre der Allerheiligsten Dreifaltigkeit und einer ewigen Gedechtnus hat eine ehrsame Burgerschaft allhie zu Kirchschlag dieses Creuz machen lassen. Anno 1659″. (Dr. Bruno Schimetschek, 1989)

Lutheranerbaum mit Bildstock, Otto Pfeiffer, 1892
Lutheraner Kreuz, A. Wimmer, 1896
Lutheranerbaum Bildstock, 1931
Lutheranerbaum Bildstock, 2018