Der Radegundenstein
Sagenumworben, geheimnisvoll und schön.
Wer von Kirchschlag aus auf der Günser Straße ungefähr zwei Kilometer zurücklegt, gelangt zur alten „ungarischen Grenze“, die heute die Bundesländer Niederösterreich und Burgenland schneidet. Wendet man sich von dort entlang der Grenze nach links ein Stück den Wald hinauf, so kommt man bald zu einem etwa zwanzig Meter hohen, umfangreichen Felsblock, der nun schon seit 1000 Jahren die Funktion eines „Grenzsteines“ ausübt und den Namen „Radegundstein“ trägt.
Nach einer alten Sage soll es sich bei den Schuttmassen, die um den Felsblock liegen, um Bachsand handeln, den die Krebse des Zöbernbaches auf Befehl des dort hausenden Teufel den Berghang hinaufschaffen mussten, worauf die Teufel auf diesem Sand den Stein aufbauten. Dort saßen sie dann und warfen auf jeden, der zu mitternächtlicher Stunde die Günser Straße passierte, Steine herab. Wir haben es demnach mit einem „Teufelsstein“ zu tun, wie er auch an anderen niederösterreichischen Orten anzutreffen ist. So gibt es z. B. bei Wiesmath und bei Ulrichskirchen Steinblöcke, die den Namen Teufelsstein tragen, weil angeblich der Teufel auf ihnen um Mitternacht eine Predigt hält. Es dürfte sich dabei meist um Felsen handeln, die einmal in heidnischer Vorzeit als Kultstätten gedient hatten und später von christlichen Glaubensboten „verteufelt“ wurden, um das Volk davon abzuschrecken, an den ehemals als „heilig“ angesehenen Orten weiterhin Götzendienst zu treiben. Im Verlaufe der Christianisierung bediente sich die Kirche dann aber eines noch viel wirksameren Mittels zur Ausrottung heidnischer Gebräuche, indem sie den dem Götzendienst gewidmeten Ort in eine christliche Andachtstätte verwandelte, wobei sie es meist geschickt verstand, so manches uralte Brauchtum in die Legende von Heiligen einzuflechten. Aus ähnlichen Beweggründen ist offenbar auch der Radegundenstein zu seinem Namen gekommen. Hatten doch Felsblöcke dieser Art in grauer Vorzeit überall Menschen dazu verlockt, sie als Kulturstätten zu gebrauchen, so dass wir dies auch für diesen Stein annehmen müssen.
Die Bucklige Welt ist nämlich wohl ein Raum, der durch lange Zeit ein geschlossenes Waldgebiet war; doch führten immerhin spätestens zur Römerzeit einige Straßen durch das kaum besiedelte Land, welche die Verbindung zu den reicher besiedelten Nachbargebieten im Norden, Süden und Osten herstellten. Bezeichnenderweise heißt ein Höhenweg, der von der Lembacher Höhe über den zwischen Zöbern- und Rabnitztal verlaufenden Höhenrücken knapp oberhalb des Radegundensteines nach Hochstraß und Lockenhaus führt, im Volksmund heute noch „Römerweg“.
In das über der Geschichte unserer engeren Heimat lagernde Dunkel kommt allerdings erst nach der Besiegung der Awaren durch Karl den Großen und der Besiedlung des Landes durch bayerische und fränkische Einwanderer (nach 800) etwas mehr Licht. So gibt es eine Urkunde des Frankenkönigs Ludwig des Deutschen, wonach dieser im Jahre 844 dem Priester Dominicus auf Bitten des Bischofs Baturich von Regensburg einen Besitz zu Brunnaron am Zöbernbach „an der Grenze der Grafschaften des Radpot und des Rihhari“ schenkt.
In der älteren Literatur wurde der Ortsname Brunnaron zunächst mit Lebenbrunn gleichgesetzt, wobei man jedoch übersah, dass es sich bei Lebenbrunn um einen erstmals 1608 urkundlich bezeugten Ort handelt, da das betreffende Waldgebiet erst gegen Ende des 16. Jahrunderts gerodet wurde. Manche Historiker wollten daher in Habich das alte Brunnaron erkennen, wo sich bis zur Zeit Kaiser Josefs II. ein der Hl. Radegunde geweihtes Kirchlein befunden hatte, neben dem sich eine heilkräftige Quelle ergoss, weshalb man auch von der „Kirche zum heiligen Brunnen sprach“.
Dieser Ansicht schloss sich zunächst auch der niederösterreichische Landesarchivdirektor Lechner an. Als aber dann im Sommer 1975 in Pilgersdorf eine 30 Meter lange Saalkirche der Karolingerzeit aufgedeckt wurde, entschied sich Lechner dazu, in diesem Gotteshaus die langgesuchte Kirche des Priesters Dominicus zu sehen, wobei er auch die Vermutung aussprach, dass ihr Kirchenpatron im Hinblick auf den nahe gelegnen Radegundenstein die Hl. Radegunde gewesen sein dürfte. Jedenfalls entspricht der Standort Pilgersdorf allen Voraussetzungen, welche nach der Königsurkunde des Jahres 1844 für das Gut Brunnaron zu fordern sind. Denn es liegt nicht nur am Zöbernbach, sondern auch an der Grenze der Grafschaften des Radpot und des Rihhari, d.h. an der Scheidelinie zwischen Oberpannonien und der Grafschaft um Steinamanger, die dann später durch Jahrhunderte die Grenze zwischen den Komitaten Ödenburg und Eisenburg bildete. Diese Grenze lief in unmittelbarer Nähe von Pilgersdorf, entlang des alten „Römerweges“ auf dem Höhenrücken zwischen Zöbernbach und Rabnitztal.
Lediglich der Name „Brunnaron“ hat sich in Pilgersdorf über den um 900 erfolgten Magyareneinfall hinaus nicht erhalten. Dieser Name bedeutet soviel wie „bei den Brunnen“. d.h. „bei den Leuten am Brunnen“ und wies somit auf einen irgendwie bedeutsamen Brunnen hin, wahrscheinlich auf eine heilsame Quelle, wie sie sich meist neben Wallfahrtskirchen befinden. Solche Brunnenheiligtümer gibt es heute noch viele im Burgenland, auch in der näheren Umgebung von Pilgersdorf wie z.B. das „Augustinusbründl“ in Lockenhaus, die „Wunderquelle“ bei der Wallfahrtskirche in Rattersdorf und das „Mariabründl“ in Dörfl. Dass auch Pilgerdorf eine heilkräftige Quelle gehabt haben dürfte, ist vor allem dann anzunehmen, wenn die älteste Kirche der Hl. Radegunde geweiht war, da Radegunden-Kultstätten vielfach an Heilbrunnen errichtet wurden. Man denke nur daran dass die Radegundenkirche in Habich sogar „Kirche zum Hl. Brunnen“ genannt wurde oder dass sich das der Hl. Radegunde geweihte Quellenheiligtum in Mannersdorf am Leithagebirge sogar zu einem Heilbad entwickelte.
Im übrigen gewinnen wir in der Radegunden-Frage noch etwas mehr Klarheit, wenn wir danach forschen, wer eigentlich der Priester Dominicus, der Empfänger des Königgeschenkes vom Jahre 844, gewesen ist. Soweit man aus Urkunden jener Zeit, die übereinstimmend einen Priester Dominicus nennen, Schlüsse ziehen kann, entstammte er vermutlich einer in Freising ansässigen Familie, wirkte 837 in der bischöflichen Kanzlei in Regensburg, gehörte 840 zum Kanzleipersonal des Karolingerkönigs Ludwigs des Deutschen und war schließlich, nachdem er 844 das Gut Brunnaron erhalten hatte, in der Heidenmission und am Hofe des in Zalavar- Moosburg in Unterpannonien residierenden Slawenfürsten Priwina tätig.
Mit diesem Dominicus wird auch eine Stelle aus einer anderen Königsurkunde Ludwigs des Deutschen in Verbindung gebracht, laut welcher im Jahre 860 der Salzburger Kirche zahlreiche Besitzungen ins Eigen übertragen wurden, darunter auch ein Gut „bei der Kirche des Priesters Minigo“, wobei wir unter „Minigo“ die Kurzform von „Dominicus“ zu verstehen haben. Da Dominicus in Pannonien eine große Missionstätigkeit entfaltete, mit der sicherlich auch die Errichtung von Kirchen verbunden war, scheint es richtig, die in der erwähnten Urkunde genannte Kirche des Minigo ebenfalls ihm zuzuschreiben. Höchstwahrscheinlich handelt es sich dabei um die Kirche der Hl. Radegunde in Habich. Denn diese Kirche lag an einem bereits durch Funde aus der Römerzeit bezeugten Weg, der von der römerzeitlichen „Hochneukirchner Straße“ über Habich offenbar ins Steinbachtal oder über den dieses südlich begleitenden Höhenzug nach Pilgersdorf führte, da das Kirchschlager Becken damals wegen Versumpfung vermutlich unpassierbar war und daher im Süden umgangen werden musste.
Nun sehen wir schon weitaus klarer! Der Priester Dominicus, der aus dem Bistum Freising stammte, wo sich die Verehrung der Hl. Frankenkönigin Radegunde besonderer Beliebtheit erfreute, besaß ein Gut, dessen Ausmaße sich etwa mit dem Gebiet der heutigen Teilgemeinde Pilgersdorf, Steinbach, Lebenbrunn und Kogel und darüber hinaus bis Habich gedeckt haben dürfte. Er hatte in der Kirche Pannonien scheinbar eine führende Rolle inne, übte eine eifrige Missionstätigkeit aus und dürfte in diesem Zusammenhang auf eigenem Grund die Kirchen in Pilgersdorf und Habich errichtet haben. Auch hat er offenbar gemäß einer damals allgemeinen kirchlichen Übung den von heidnischen Dämonen umwitterten „Teufelsstein“ in Radegundenstein „umgetauft“ um ihn auf diese Weise zu „christianisieren“. Damit knüpfte er an einen Steinkult an, der zwecks Verdrängung heidnischer Vorstellungen vielfach mit der Heiligen Verehrung verbunden wurde, wobei bloß an den bekannten „Antrittstein“ in der Legende des Hl. Wolfgang erinnert sei. Auch in der Heiligenlegende der Frankenkönigin Radegunde spielt ein Stein insofern eine Rolle, als ihr nämlich in ihrer Klosterzelle in Poitiers Christus bei seinem Weggehen eine Trittspur im Stein hinterlassen haben soll, die in einer Kapelle der St. Radegund-Kirche in Poitiers heute noch gezeigt wird.
Beim Einfall der Magyaren in Pannonien (um 900) wurden dann zahlreiche Kirchen, ja selbst ganze Ortschaften zerstört. Damals wurde offenbar auch das alte Brunnaron samt Kirche vernichtet und aus dem Gedächtnis der Menschen gestrichen. Als man aber etwa 300 Jahre später an derselben Stelle wieder ein Dorf aufbaute, erhielt es den Namen Pilgerimsdorf, vielleicht in Erinnerung an den in der Bekehrung der Ungarn eifrig tätig gewesenen Bischof Pilgrim von Passau (971-991). Als Kirchenpatron wählte man auch den Hl. Ägidius. Denn die Erinnerung an die alte Kirche, deren Reste inzwischen völlig im Erdboden versunken waren, war längst verloren gegangen. Nur der Name des Radegundensteines hat sich bis heute erhalten, weil er sich vermutlich in die Gemüter der Menschen ringsum tief eingegraben hatte. (Dr. Bruno Schimetschek, 1989)